Iris Jurjahn: wesenHAFT

Galerie im DreiGiebelHaus, Xanten (14. Juni 2015)

 

„wesenHAFT“ ist die erste Einzelausstellung von Iris Jurjahn in der Galerie im Dreigiebelhaus. Zuvor waren bereits einige ihrer Arbeiten in Gruppenausstellungen zu sehen, in den Ausstellungen „INBETWEEN“ (2012) und „In BETWEEN 2“ (2013). Jurjahn studierte von 2009 bis 2014 Malerei und Grafik an der IBKK – dem Institut für Ausbildung in bildender Kunst und Kunsttherapie – in Bochum, u.a. in der Meisterklasse von Piotr Sonnewend. Bis auf wenige Ausnahmen entstanden alle Arbeiten für diese Ausstellung in den Jahren 2014 und 2015 und werden hier zum ersten Mal einem Publikum präsentiert.

 

Was zuerst ins Auge fällt, wenn man diese Ausstellung betritt, ist die Farbigkeit der Gemälde. Das  experimentieren mit Farbe und verschiedenen Farbmischungen ist grundlegend im Werk der Künstlerin. Immer wieder setzt sie sich damit auseinander, wie Farben sich verhalten und welche Wirkungen sie erzielen können. Die Ergebnisse dieser Experimente sind oft lebhaft und dynamisch. Viele der Acrylarbeiten auf Papier und Leinwand wirken, als seien sie spontan entstanden, aus einem Gefühl heraus. Die Aussage der Künstlerin, dass ihre Bilder aus einem Chaos heraus geschaffen werden, scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Tatsächlich findet jedoch der größte Teil der Arbeit bereits vor dem Malen statt: Bevor zum Pinsel oder zum Spachtel gegriffen wird, sind bereits klare Vorstellungen vorhanden. Die Bildidee gibt den Rahmen für das letztendliche Werk. Raum für Überraschungen und Spontanität gibt es dennoch, denn die Detailarbeit ergibt sich erst während des Malens: Welche Teilstücke sollen farblich hervorgehoben werden? Welche hingegen werden präzise herausgearbeitet? Was wiederum bleibt schemenhaft? Diese Entscheidungen fallen spontan und werden bei jedem Bild individuell getroffen.

 

Im Gegensatz zu den früheren Arbeiten der Künstlerin fällt auf, dass die jüngsten Werke nicht nur im Format gewachsen sind, sondern sich auch ästhetisch verändert haben. Die stark flirrenden, vibrierenden Farben sind nach wie vor vorhanden. Aufgrund ihrer nunmehr abstrahierenden Sprache wirken die Bilder jedoch häufig aufgelöster, experimenteller. Dies zeigt sich zum Beispiel bei „Zwischen Nah und Fern“. Das Gemälde, das auch auf den Einladungen zur Ausstellung zu sehen ist, hat eine sehr ambivalente Wirkung. Es ist das Porträt einer Frau im Halbprofil, mit hochgestecktem Haar. Sie ist nur schemenhaft, lediglich an den Umrissen zu erkennen. Die Hintergrundfarben Gelb und Blau suggerieren ihre Verortung in einer Strandlandschaft. Schraffuren im oberen und im rechten Bilddrittel wiederum könnten als Spiegelungen, z.B. einer Wasseroberfläche, gedeutet werden. Die schemenhafte, nur auf die nötigsten Anhaltspunkte beschränkte Darstellungsweise verleiht dem Bild etwas Geheimnisvolles und wirft die Frage auf: Wendet das Gesicht der Dargestellten sich ab oder wendet sie sich uns zu? Hier ist der Betrachter gefragt.

 

Neben den zunehmenden Abstrahierungen und Auflösungen sind es vor allem Wechsel und Widersprüche, die Iris Jurjahn interessieren. Diese zeigen sich beispielsweise in der Oberfläche der Gemälde: Feine Pinselstriche bilden einen Kontrast zum groben Farbauftrag mit dem Spachtel. Glatte Farbflächen stehen strukturierten Farbflächen gegenüber. Flächige, skizzenhafte Darstellungen wechseln sich ab mit präzisen Herausarbeitungen ausgewählter Details. Die Beschäftigung mit und das Interesse für solche Widersprüche und Kontraste geht mit der Intention einher, nichts Perfektes darstellen zu wollen: Über zu „glatte“ Bilder, so die Künstlerin, sähe das Auge schnell hinweg. Es sei nicht wichtig, ob ein Bild schön werde oder sei. Vielmehr solle das Unperfekte, die Unordnung des Lebens widergespiegelt werden. Sein Inhalt, sein Ausdruck, seine Stimmung und das, was das Bild beim Betrachter letztendlich auslöst, sind der Künstlerin wichtiger als die Ästhetik des Bildes. Die Grenzen des Formalen werden während des Malens ganz bewusst verlassen und aufgelöst, um dann wieder aufgenommen zu werden. So werden Licht- und Schattenwirkung beispielsweise bewusst vernachlässigt. Schemenhaftes und Detailliertes bestehen nebeneinander; detaillierten Herausarbeitungen werden wohlüberlegt vorgenommen. Jedes Bild beginnt mit einer umrisshaften Skizze. Bestimmte Details – das, was der Künstlerin nah ist, was sie am meisten interessiert – werden herausgearbeitet. Das wiederum, das übrig bleibt, bleibt schemenhaft. Sei ein Bild während des Arbeitsprozesses doch zu harmonisch, zu perfekt oder zu schön geworden, müsse es zerstört werden, so Jurjahn. Nicht tatsächlich natürlich, sondern mit dem Pinsel; indem z.B. zuvor übermalte Umrisslinien wieder hervorgehoben werden. Dadurch soll der Darstellung der Realismus genommen werden und dem Subjektiven Raum gewährt werden. Darüber hinaus sollen die hier ausgestellten Arbeiten Raum für eigene Interpretationen öffnen. Die Künstlerin gibt lediglich einen Rahmen vor. Die Bilder an sich müssen keinen Sinn haben – er muss ihnen durch den Betrachter verliehen werden.

 

Beim Gang durch die Ausstellung wird auch deutlich, dass bestimmte Motive immer wieder auftauchen. Dazu gehören figürliche Darstellungen – Menschen in verschiedenen Altersstufen – aber auch Tiere, insbesondere Vögel. Viele dieser Motive haben ihren Ursprung in Emotionen oder Kindheitserinnerungen; nicht selten verkörpern sie vergangene Begegnungen oder Gedanken, die die Künstlerin greifbar machen will. Die Vorbilder der Darstellungen von Menschen stammen häufig aus ihrem unmittelbaren Umfeld. Ein Beispiel hierfür ist das Gemälde „6000 im Jahr“, das Porträt eines Mannes, dessen in verschiedenen Gelb-, Violett- und Blautönen gehaltenes Gesicht sich kontrastreich vom dunkleren Hintergrund abhebt. Der Porträtierte ist dem Betrachter im Viertelprofil zugewandt, scheint seinen Blick geradezu auf ihn zu heften. Auffällig – und zugleich ein Merkmal, das die meisten Bilder der Künstlerin prägt – ist die Erkennbarkeit von Linien bzw. Umrisslinien; die Sichtbarkeit grafischer Elemente also. Auch hier spielt wieder der Vorrang des Subjektiven vor dem Realistischen eine maßgebliche Rolle. Malerei, so Iris Jurjahn, habe nichts mit der Realität zu tun. Dafür gäbe es die Fotografie. Malerei sei vielmehr dafür da, Eindrücke und Stimmungen einzufangen und wiederzugeben. Detailgenaue Darstellungen von Personen strebt sie nicht an. Was zählt, ist die künstlerische Freiheit, Personen so darzustellen, wie sie ganz subjektiv wahrgenommen werden und abhängig davon, was man mit ihnen verbindet. Doch nicht nur in diesem Aspekt finden sich Anklänge an die Malerei der Expressionisten. Auch bezüglich der Ästhetik, des Umgangs mit Form und Farbe, der Beschränkung auf einige wenige markante Motive und die Verweigerung traditioneller Perspektiven lassen sich Ähnlichkeiten festmachen. Grafische Elemente, wie die bereits angeführten Umrisslinien, sind allgegenwärtig; auch wird ganz bewusst über den Strich gemalt. Die subjektive Sicht der Künstlerin manifestiert sich darüber hinaus nicht nur in der Art und Weise der Darstellung, sondern auch in den Titeln vieler Bilder. Was verbindet Iris Jurjahn eigentlich mit dem Mann, der auf „6000 im Jahr“ dargestellt ist? Die Beantwortung dieser Frage ist nahezu unmöglich, wenn man die dargestellte Person nicht selbst gut kennt: Der Titel verweist nämlich auf den Umstand, dass der Porträtierte 6000km in Jahr mit dem Fahrrad zurücklegt.

 

Neben den zahlreichen Gemälden sind in dieser Ausstellung auch Grafiken zu sehen, die nur dem ersten Anschein nach wenig mit dem malerischen Werk zu tun haben. Tatsächlich treten sie jedoch in ihrer Bedeutung keineswegs hinter den Gemälden zurück. Auch hier kommen wieder die Kontraste ins Spiel, mit denen sich die Künstlerin beschäftigt: Denn so wichtig die grafischen Elemente für die Gemälde sind, so grundlegend ist auch der Wechsel verschiedener Materialien im Werk, vor allem der Wechsel der Arbeit mit Farbe und mit Kohle – also zwischen Malerei und Grafik. Man könnte sagen: Das eine wird benötigt, um das andere schaffen zu können.

 

Anders als bei den Gemälden handelt es sich bei den Zeichnungen mit Graphit und Bleistift vor allem um experimentelle Arbeiten sowie Studien, bei denen sich die Künstlerin selbst keine Vorgaben setzt. Die Bilder entstehen aus dem Arbeiten heraus. Im Gegensatz zu den gemalten Porträts haben figürliche Darstellungen hier beispielsweise in der Regel keine echten Personen zum Vorbild. Die Ergebnisse sind dementsprechend vielfältig: Gesichter werden aus der Dunkelheit hervorgeholt. Mal scheinen sie zu leuchten, dann wieder erscheinen sie aufgrund des Mangels von Licht sehr schemenhaft und sind kaum greifbar. Nicht selten treten hier die klaren Linien, die in der Malerei immer wieder auftauchen, zugunsten von Verwischungen und graduellen Übergängen zurück. Während grafische Elemente und Konturen den Gemälden Struktur verleihen, weisen die Grafiken häufig eine Ästhetik auf, die man als malerisch bezeichnen könnte. Sie evozieren im Moment festgehaltene Eindrücke, ähnlich Momentaufnahmen in der Fotografie. Doch auch hierbei soll nichts zu perfekt sein. Hinter diesen experimentellen Zeichnungen stehen häufig ganz andere Fragen und Intentionen als hinter den Gemälden: Wie viele Linien sind notwendig, um etwas erkennen zu können? Und wie viele Details werden dafür benötigt? Mit einer Mischung aus Neugierde und Forschergeist stellt sich Iris Jurjahn Fragen wie diesen immer wieder aufs Neue.

 

Friederike Pönisch M.A. 


 

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